Marti Leimbach Daniel – ein Junge ohne Worte
Daniel isn’t Talking, ClubPremiere 2008
Leseprobe
Im Schuhgeschäft suche ich nach Schnallenschuhen, weil Daniel unbedingt welche möchte. „Bitte, Schuhe mit Schnallen“, sagt er jeden Tag und klatscht dazu in die Hände, während er den Oberkörper leicht nach vorne kippt, als wäre ich eine Königin, vor der er sich verbeugt. Ich habe ihm die Schuhe versprochen, und er hat mir das Versprechen abgenommen. Mit strahlenden Augen. Warum bitte schön gibt es in diesen Läden keine Schuhe für meinen Sohn, obwohl er doch jetzt regelmäßig Vier- bis Fünf-Wort-Sätze bildet?
„Nur für Mädchen“, sagt die Dame bei Clarks. Ihr Umgangston lässt für eine Schuhverkäuferin sehr zu wünschen übrig. Sie trägt ein elegantes Leinenkostüm, ihre Brille hängt an einer Schmuckkette um ihren Hals, und ihre Schuhe entstammen nicht dem hauseigenen Lager. „Das habe ich Ihnen beim letzten Mal schon gesagt.“
„Ich weiß“, entgegne ich. „Aber er will unbedingt Schnallenschuhe.“
„Klettverschluss kann ich anbieten“, sagt sie. „Sehr schön, sehr praktisch.“
„Schnallen! Ahh! Schnallen! Ahahaha!“ Daniel federt auf den Fußballen herum, als stände er plötzlich unter Strom. „Schnallenschuhe! Ich will Schuhe mit Schnallen, bitte!“, schreit er mit kratzender Stimme.
Das waren sieben Wörter. Andy hat mir gesagt, dass man irgendwann aufhört mitzuzählen. Heißt das, dass er eines Tages normal sein wird?, habe ich gefragt. Andy ist ehrlich. Er sagt mir immer die Wahrheit. Er hat nein gesagt. Das heiße nicht, dass Daniel eines Tages normal sein werde. Die Sprache sei ja nicht alles. Ich weiß das natürlich. Trotzdem ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich mich von Daniels Diagnose freikaufen will. Vielleicht stellt ja irgendjemand fest, dass er das Asperger-Syndrom hat und keine schwerere Form von Autismus, oder nur eine Sprachentwicklungsstörung und gar nicht Autismus. Alles ist besser als Autismus. Kuhhandel sei das, hat mich Andy gerügt, verschwendete Zeit. Er, der Autismus als behandelbar betrachtet, wenn man sich nur voll darauf konzentriert.
„Tut mir leid, dass wir nur Mädchenschuhe mit Schnallen führen“, sagt die Frau. An der Wand stehen einige rosa Regale mit Aufdrucken von Barbiefiguren und blonden Püppchen. Und dort, in diesem Traum von Rosa, stehen die Schuhe, die Daniel will. Er sieht das alles. Er begreift, was die Frau meint. Sprache ist längst mehr als bloßer Klang in seinen Ohren. Also geht er zum Dinosaurierregal in der Jungsecke des Ladens, nimmt dort ein Paar Schuhe, olivgrün-schwarze mit dicken Sohlen und Hologrammen von prähistorischen Monstern, und trägt sie zur Mädchenseite. Er vertauscht die Dinoschuhe gegen die hübschen Lackschuhe mit Schnallen, die er sich so sehnsüchtig wünscht.
„Entschuldigen Sie, aber könnten Sie bitte etwas unternehmen?“, herrscht mich die Verkäuferin an.
Aber ich bin fasziniert von dem, was ich da sehe. Daniel hat klar erkannt, wo das Problem liegt: Vom Objekt seiner Begierde trennt ihn sein Geschlecht. Was liegt also näher, als die Deko zu vertauschen? Jetzt gehören eben die festen Schuhe mit dem Klettverschluss in die rosa Barbie-Welt und die begehrten Lackschühchen mit Schnallen in die Jungskulisse aus Dschungel und Dinos.
„Junger Mann, würdest du bitte die Schuhe wieder zurückstellen“, sagt die Verkäuferin. Sie geht auf Daniel zu und will ihm die Schuhe abnehmen, die mit den Schnallen, auf die er schon so lange wartet. Er windet sich, stößt einen Laut aus. Sie macht noch einen Schritt, um ihm die Schuhe zu entwinden, und da vergräbt er seine Zähne in ihrer Hand.
„Aah!“, schreit sie und wendet sich wutentbrannt mir zu. Der Biss ist harmlos, die Haut nicht mal gerötet. Er war nur als Warnung gedacht. Andernfalls hätte Daniel noch immer ihr Fleisch zwischen den Zähnen. „Ich möchte jetzt bitte, dass Sie Ihr Kind entfernen!“, zischt die Frau, ihre Hand umklammernd. Aus ihrem Blick spricht Wut und Verachtung.
„Es tut mir so leid“, sage ich, und das ist sogar die Wahrheit. Ich hätte schneller eingreifen und erklären müssen, dass Daniel autistisch ist, dass er die Regeln der Gesellschaft nicht so befolgen kann wie wir mit normaler Hirntätigkeit, weniger aggressiven Gedanken und funktionierender Kommunikationsfähigkeit.
„Sie müssen verstehen“, fährt die Verkäuferin fort, „in diesem Land tragen nur Mädchen Lackleder. Und nur Mädchen tragen Pumps wie diese. Es tut mir leid, aber das ist nun mal Brauch in diesem Land.“
Brauch, aha. So wie PG-Tip-Teebeutel oder dass die Banken montags geschlossen haben. Wie der Linksverkehr.
Ganz offensichtlich glaubt diese Schnepfe, dass ich meinen Sohn in Highheels und Nylons stecke. Schließlich bin ich ja Amerikanerin. Und jeder Brite weiß, dass diese Amis alle pervers sind.
„Das wird jetzt hart für Sie“, sage ich gedehnt, während ich meine Kreditkarte heraushole. Nach ihrer freundlichen Einführung in die kulturellen Gepflogenheiten dieses Landes hat sie ihr Recht auf Aufklärung ein für alle Mal verwirkt. „Aber auch wenn Sie daraufhin einen Herzinfarkt bekommen, möchte ich, dass Sie mir diese Schuhe einpacken.“
Auf dem Heimweg flitzt Daniel auf dem Gehsteig vor und zurück, immer mit Blick auf die neuen Schuhe und ihre wunderbaren Schnallen. Es ist mir egal, dass er mit seinen breiten Füßen und den Knubbelbeinchen in diesem Schuhwerk aussieht wie ein Miniaturtransvestit. Für mich zählt nur, dass mein Junge glücklich ist. Normalerweise würde er jammern und quengeln, sich auf den Boden werfen, um dort schweißgebadet zu kauern und sich nicht mehr vom Fleck zu rühren, weil er den ganzen Weg bis zur U-Bahn getragen werden will. Heute hat er keine Zeit für solchen Unfug. Voller Begeisterung über seine neuen Schuhe hüpft er bei jedem Schritt. Natürlich glotzen in der Bahn ein paar Leute auf diesen kleinen Mann, der offenbar die Schuhe seiner Schwester anhat. Aber die werde ich in meinem Leben ganz gewiss nie wieder sehen.
„Die sind neu.“ Ich grinse die Frau mir gegenüber auf dem Sitz an, die über ihre John-Lewis-Einkaufstüten hinweg auf Daniels funkelnde, zierliche Partyschuhe blickt.
„Das sehe ich“, bemerkt sie.
Wir haben ihr was Gutes getan, Daniel und ich. Jetzt hat sie etwas, das sie ihrem Mann heute Abend erzählen kann.
Beim Nachhausekommen flöte ich Veena und Emily ein Hallo entgegen. Als Daniel und ich vorhin zum Schuhkauf loszogen, waren sie damit beschäftigt, Kulissen zu malen, denn Emily möchte uns heute Abend ein Theaterstück vorführen. Die Schöne und das Biest, in den Hauptrollen: Mickey Mouse und Mickey Mouse. Dumbo ist abgemeldet, wahrscheinlich für immer. Die bemalten Elefanten stehen aufgereiht auf dem Fensterbrett, der selbstgetöpferte ganz vorne, und sie haben sich seit Wochen nicht bewegt. Als ich Emily die Geschichte zum letzten Mal vorlas, empfand ich auf einmal eine bislang ungekannte, tiefe Sympathie für Dumbos Mutter. Sie wurde eingesperrt, weil sie für ihr Baby kämpfte, und an ihrem Käfiggitter prangte ein Schild mit der Aufschrift: „Verrückter Elefant!“
„Warum haben die das getan, Mami?“, wollte Emily wissen und schaute in das Gesicht der Elefantendame mit ihren verzweifelten, traurigen Augen, dem zum Trompeten erhobenen Rüssel.
„Aus Ignoranz.“
„Was ist Ignoranz?“, fragte Emily, meine kluge, wissbegierige Tochter, die schon fast fünf ist.
„Ignoranz ist, wenn man etwas nicht weiß“, erklärte ich. „Oder nicht wissen will.“
Auf der Arbeitsplatte liegt ein Zettel von Veena. Sie sind in den Park gegangen. Und auf dem Anrufbeantworter ist eine Nachricht von Stephen, der mich dringend um Rückruf bittet. Als ich ihn auf dem Handy erreiche, hört er sich an, als spräche er unter Wasser, mit großer Mühe, wie aus weiter Ferne. Sein Vater ist heute Morgen unerwartet gestorben, auf dem Weg ins Krankenhaus. Offenbar hat sein Herz den Depressionen nicht mehr standgehalten.
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