Kôji Suzuki | loop – the ring III
Loop – the Ring III, Heyne 2004 (aus dem Französischen)
Leseprobe
Erneut schien er zu wissen, was in Kaorus Kopf vorging. Wenn das stimmte, war jeder Gedanke an Flucht sinnlos.
“Meine Mission?”
“Ja, der Grund, warum du hierher gekommen bist. Du willst doch das MHCV besiegen, oder?”
Die beiden blickten sich einen Augenblick lang unverwandt an.
Kaoru machte es hochgradig nervös, dass er praktisch nichts über Eliott wusste, während der sämtliche Information über ihn zu besitzen schien. Die wissenschaftliche Karriere des alten Mannes war sehr interessant, aber er hätte gern mehr über ihn als Privatperson erfahren. Wenn sich dieser sonderbare Kerl mit seinen Riesenhänden und -füßen als Mensch aus Fleisch und Blut offenbaren würde, wäre ihm bestimmt erheblich wohler in seiner Haut.
“Zu dem Thema möchte ich dir gleich mal eine Frage stellen.”
Eliott hob den rechten Zeigefinger. Wollte er sich jetzt auch noch als Schulmeister aufspielen?
“Wann wurde entdeckt, dass die Schwingungssignatur von Neutrinos eine Veränderung aufweist, sobald sie mit Materie in Berührung kommen?”
Neutrinos sind Elementarteilchen, die sich durch drei Merkmale auszeichnen: Sie bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit fort, besitzen Energie, ohne elektrisch geladen zu sein, und können alles durchdringen. Ein von der Sonne ausgesandtes Neutrino dringt in die Erde ein, tritt auf der anderen Seite wieder aus und fliegt weiter in die Unendlichkeit. Neunzig Prozent aller Materie besteht aus diesen Teilchen, die sich praktisch überall befinden.
Was sollte die Frage? Kaoru wusste genau, was Neutrinos waren und wann diese Besonderheit entdeckt worden war. Das war kurz vor seiner Geburt gewesen … ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte.
“Du hast Recht. Erst seit dem Ende des letzten Jahrhunderts ist ja bekannt, dass Neutrinos keineswegs masselos sind, wie man bis dahin angenommen hatte.”
“Ja und? Was hat das mit …”
“Moment mal”, fiel ihm Eliott ins Wort. “Lass mich bitte ausreden. Alles ist miteinander verwoben und entwickelt sich organisch wie ein lebendiges Wesen. Das heißt aber auch, dass nicht immer alles logisch ist. Es macht nichts, wenn du noch nicht begreifst, warum ich dir das alles erzähle. Nur eins musst du verstehen: Wenn die Signaturveränderung der Neutrinos nicht entdeckt worden wäre, würdest du nicht existieren.”
“Hören Sie auf, sich über mich lustig zu machen! Was habe ich mit Neutrinos zu tun?”
“Okay, okay. Bleiben wir noch drei Minuten bei den Neutrinos.”
Eliott zufolge ließen sich infolge dieser bedeutenden Entdeckung winzigkleine dreidimensionale Strukturen digitalisieren, indem man sie mit Neutrinos bestrahlte und anschließend die Veränderung ihrer Schwingungssignatur maß. Das war sowohl bei organischer wie bei anorganischer Materie möglich. Man erhoffte sich durch diese neuartige Methode vor allem in Medizin und Physiologie große Fortschritte. Anders als bei der DNA-Analyse, wo immer nur eine einzige Zelle betrachtet wurde, konnte bei dieser Methode die Gesamtheit aller Informationen eines Lebewesens, und zwar auf molekularer Ebene, digital erfasst werden. Man erhielt damit das dreidimensionale Abbild eines Lebewesens mit sämtlichen Daten, etwa über Gehirntätigkeit, Empfindungen und Erinnerungen.
“Gleich nach dem Start des Loop-Programms begann eine eigens gegründete Forschungsgruppe mit der Entwicklung des so genannten Neutrino Scanning Capture System, kurz NSCS oder Neucap, mit dessen Hilfe die komplette Molekularstruktur eines Lebewesens analysiert werden kann. Das Projekt erhielt natürlich massive finanzielle Unterstützung. Ich habe nicht selbst daran mitgearbeitet, aber ich habe mit Sicherheit indirekt viele wichtige Tipps gegeben.”
An dieser Stelle stieß Eliott einen Seufzer aus. “Wieso trinkst du nicht mal einen Schluck? Ich muss ein wenig Ordnung in meine Gedanken bringen.”
Kaoru benetzte seine Lippen mit dem längst kalt gewordenen Tee. Über Neutrinos und ihre Verwendung hatte er schon alle möglichen Gerüchte gehört, aber von einer so bedeutenden Analysemethode war ihm noch nie etwas zu Ohren gekommen.
“Ich will dich nicht verwirren, aber … nun gut, kommen wir jetzt zu dieser Sache mit dem MHCV.”
“Sie meinen, wir kommen endlich zum Punkt?” Kaoru war erleichtert. Er hatte schon befürchtet, der alte Mann würde weiter unzusammenhängendes Zeug faseln.
“Was weißt du über das Virus?”
“Seine DNA ist entschlüsselt. Ich habe die Sequenzen selbst gesehen.”
“Trotzdem wurde bislang weder ein Heilmittel noch ein Impfstoff dagegen entwickelt.”
“Warum eigentlich nicht?”
“Nun, dazu muss man den Ursprung eines Erregers kennen, und die ist in diesem Fall immer noch unbekannt.”
Kaoru äußerte seinen Verdacht. “Könnte er nicht aus dem Loop stammen?”
Eliott riss überrascht die Augen auf. “Wie kommst du darauf?”
Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck unverhohlener Begeisterung. Kaoru hätte diesen Moment des kleinen persönlichen Triumphes gern noch etwas ausgekostet, aber seine Ungeduld überwog.
“Die DNA des Virus ist ziemlich einfach aufgebaut. Es besitzt neun Gene, und die Zahl der einzelnen Basen bewegt sich im vier- bis sechsstelligen Bereich. Auffällig daran ist, dass diese Zahlen allesamt Produkte aus 2n mal 3 sind. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ein Zufall sein soll.”
Eliott ließ ein zufriedenes Grunzen hören. “Bravo! Du hast sogar das bemerkt.”
“Ich will mich nicht loben, aber bei Zahlen habe ich eine untrügliche Intuition.”
“So bist du also auf die Herkunft des Virus gestoßen …”
“Genau. Den Faktor drei konnte ich mir leicht erklären. Je drei Basen bilden ein Codon, das für eine Aminosäure kodiert. Aber was hatte die Basis zwei zu bedeuten? Wenn ich nichts von Loop gewusst hätte, wäre ich vielleicht nie darauf gekommen. Doch so war mir bald klar, dass es die zwei sein musste, weil Computer auf einem binären System basieren. Das Virus muss also aus dem Loop kommen.”
“Du hast absolut Recht!”
Die Lippen zu einem schwer deutbaren Lächeln verzogen, klatschte Eliott in die Hände. War der Beifall ernst gemeint? Oder machte er sich wieder einmal über ihn lustig?