Bernard Fauconnier | Die Kinder des Kairos

Bernard Fauconnier

Bernard Fauconnier

Kairos, Ullstein 1998

Leseprobe

Er fühlte sich ein wenig schwindelig. Erneut spürte er diesen beunruhigenden Schmerz, der regelmäßig wiederkehrte, ein Stück unterhalb des Herzens. Welches Organ gab langsam seinen Geist auf? Das Herz, die Leber, die Bauchspeicheldrüse? Der Körper ist wie ein Motor, dachte er. Vergaser, Lichtmaschine, Batterie, Ventile. Auspuff. Gegen zehn überlegte er, ob er noch weggehen sollte. Die Angst quälte ihn, und je mehr er sie Herr über sich werden ließ, um so stärker meldete sich der Schmerz. Er bedauerte, nicht mit Sylvia mitgefahren zu sein. Er war nahe daran, sie anzurufen und zu bitten, die Kinder an den Apparat zu holen. In diesem Augenblick erfaßte ihn die Gewißheit, daß etwas Gravierendes, Unabwendbares passieren würde. Er irrte durch die Wohnung, von einem Zimmer ins nächste, und versuchte, sich zu sammeln, die Spirale aufzuhalten. Es war eine absurde, zerfahrene Situation. Bilder eines Deichs, der unter Wassermassen einbricht, schossen ihm durch den Kopf. Und das Leben, das er in den letzten Monaten geführt hatte, seine Aktivitäten, seine Träume, die Recherchen, die er unternommen hatte, alles kam mit der Gewalt einer Unterwasserexplosion in ihm hoch.

Er setzte sich an den Schreibtisch und hörte sich zum hundertsten Mal die Kassette mit der Stimme an. Nichts, ein Gemurmel aus den Tiefen der Vergangenheit, ein Lebenshauch, vielleicht die Stimme einer eifersüchtigen kleinen Töpferin, einer verliebten Frau an einem Morgen wie vom Anbeginn der Welt. Er stellte sich vor, wie sich seine kleine Töpferin vor ihrem jungen römischen Herrn am Flußufer entkleidete. Sie hatte ihm den Zugang zu ihrer Werkstatt verboten, dachte er, aber nicht zu ihrem Körper. Er sah sie vor sich, wie sie ins Wasser glitt und sich die Schicht aus rotem Tonstaub auf ihrer Haut wie eine Blutspur im Fluß verflüchtigte. Dann folgte ihr Marcus, und sie genossen eine ganze Weile das kühle Wasser, bevor sie einen geschützten Ort suchten, an dem sie zueinanderfinden und ihrer Lust freien Lauf lassen konnten. Und dann? Dann, dachte er, müßte die Geschichte weitergehen. Marcus fuhr mit seiner Geliebten nach Rom zurück. Bei ihrer Ankunft erfuhr er, daß ihm das Gerücht von seiner Liaison mit einer Freigelassenen bereits vorausgeeilt war. Sein Vater, der Senator Titus, tobte vor Wut. Marc stellte amüsiert fest, dass er dieser Figur ganz automatisch die Züge seines Schwiegervaters verliehen hatte. Es gab noch eine Menge schöner Szenen zu schreiben, dachte er. Marcus gab sein schillerndes und sorgloses Leben auf und verzichtete auf eine erfolgreiche Zukunft als Dichter, um die Frau zu beschützen, die er liebte. Und Schutz fanden sie nur bei den Leuten, die einen Mensch gewordenen Gott anbeteten, den sie Christus nannten.

Die Urkirche, die Kirche der Wunder, deckte eine nicht standesgemäße Verbindung, indem sie eine sündhafte Liebe beherbergte? Marc fand diesen Wiederspruch amüsant. Warum nicht? Er brauchte diesen Kitsch, diese Rückkehr zu naiven Wundern. Er träumte ein wenig. Würden sie als Löwenfutter im Zirkus enden? Oder aber … Ja, Lycos mißtraute dieser Geschichte von dem Mann, der von den Toten auferstanden sein wollte und behauptete, der Sohn Gottes zu sein, und nahm ihren jungen Geliebten nach Griechenland mit, an den Ort, aus dem sie stammte, zur Wahrheit, zum Licht, zur Aletheia … Das Ende war ungewiß, doch es war so schön, die beiden ein kleines Stückchen auf ihrem Weg zu begleiten …  ((S. 190f.))

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